Als ich neulich in meiner Jukebox blätterte … Nee, nee, … Aber manch einer stöbert ja gerne und regelmäßig in seiner Plattenkiste (manche Menschen besitzen sowas durchaus!) andere stehen vor dem Bücherregal längst gelesener Schmöker und erfreuen sich daran. Ich schaute für diesen Freitag auf dem Block einmal in unser altes Radioarchiv.
Erinnert sich noch jemand ans Literadium, das Literaturradio im Bielefelder Bürgerfunk? Ich tue das immer wieder gerne. Wir machten dort einmal im Monat eine Sendung zur Literatur. Magazinsendungen, Sendungen zu einzelnen Autoren, Feature, Schnipsel, Kolumnen, Interviews. Ach, das war eine schöne Zeit … damals.
Für heute habe ich euch also einen Interviewschnipsel herausgekramt von Christine Helm, die diese Sendung damals moderierte und meine Lesung eines Textes von … na, na, von wem schon … na klar: Franz Kafka. Die ganze Sendung war zu Kafka. Nicht die Ohren kräuseln, reinhören ;)
Gespräch mit einer Gans
vom 24. März 2020
Aufgelesenes III
Ich machte heute Morgen meine kleine Runde am See. Außer mir war niemand unterwegs. Selbst in Corona-Zeiten und in der frühen Morgenstunde eine ungewöhnliche Stille. Es ist eine kleine Ewigkeit her, dass ich gelernt hatte, Vogelstimmen zu erkennen, doch plötzlich — hier in der Ruhe — hörte ich sie wieder und kramte in meinen verklungen geglaubten Hör-Erinnerungen.
Da kam ich an einigen Gänsen vorbei und sprach anstatt eines fröhlichen Guten Morgens: „Na, ihr Lieben, habt ihr die Welt einmal nur für euch allein?“
Eine Gänsedame drehte den Kopf und erwiderte: „Hältst du das hier für eine Welt?“
Ich hatte nicht geahnt, dass meine Kenntnisse der Vogelstimmen so weit reichten und blieb stumm.
„Wir sind erst kürzlich aus Afrika zurückgekehrt. — Es ist hier bei euch ein schönes, aber doch bescheidenes Fleckchen Erde,“ sagte sie und ich ahnte bereits, worum es ihr ging. „Doch gemessen an der Welt, die wir auf unserer Reise hierher überflogen haben?“
Ich konnte diesem philosophischen Gedanken nur beipflichten. Doch da mischte sich ein Erpel in unser Gespräch und rief etwas beleidigt: „Und wer gibt uns nun unser tägliches Brot?“
Die Gans hob nur ihren langen Hals und sagte: „Darum müsst ihr euch jetzt wohl selbst wieder kümmern.“ Sie wandte sich ab und ließ uns stehen.
Mit dem aufdringlichen Erpel wollte ich nicht länger reden und setzte meinen Spaziergang fort. Ob es nicht von Vorteil wäre, dachte ich, solch philosophischen Disput des Öfteren zu führen?
mh
Lektüreempfehlungen
vom 22. März 2020
AufgelesenesII
Seit meiner letzten Notiz hier auf dem Block bekomme ich Zuschriften mit Lektüreempfehlungen auf Rezept. Von Homers Ilias bis Stephen Kings Mr. Mercedes ist alles dabei. Ich frage mich allerdings, wie mich das Gemetzel um Troja oder der wahnsinnige Selbstmordattentäter mit Nobelkarosse heiter in den Schlaf bringen sollen. Also ich befürchte, da würde mir meine Ärztin doch wieder Die Verwandlung auf den Nachttisch legen wollen. Da wird ein Ungeziefer schlimmstenfalls mit Äpfeln beworfen.
Ungeziefer bei Seite. Als lesenswert entpuppte sich am Wochenende dann folgendes Buch: Unter den Menschen von Mathijs Deen. Ein schmales Büchlein von knapp hundertneunzig Seiten im Mareverlag. Der Autor war mir bislang unbekannt. Jetzt, wo ich angebissen habe, stelle ich jedoch fest, dass es von dem Menschen kaum noch weitere Übersetzungen aus dem Niederländischen gibt. Man, man, man … Also Herr Andreas Ecke (seines Amtes Übersetzer) machen Sie hin! Jetzt ist Zeit, nicht nur zum Lesen … ;)
PS. Liebe Block-Leser, vielen, vielen lieben Dank für die Lesehilfen. Allein die Zuschriften haben mich besser schlafen lassen. Und fällt euch auf, ich habe das C-Wort gar nicht gebraucht. Geruhsame Nacht! Euer
mh
Verordnung
vom 20. März 2020
Aufgelesenes I
Da ich in Corona-Zeiten zu den Chronischen gehöre (jetzt eine ausgewiesene Risikogruppe unserer Gesellschaft) hier die Verordnung meiner Ärztin:
Will mich vergewissern und bekomme zur Antwort: Ja, wenn es bei Ihnen unbedingt Kafka sein muss! Warum tut es nicht einmal ein Krimi? Aber dann wenigstens nicht vor dem Einschlafen! Die Frau kennt mich zu gut. Und Punkt Nummer vier befolge ich jetzt einfach mal …
mh
Die Eichbäume
vom 20. März 2020
Zum heutigen Geburtstag ein Gedicht von Friedrich Hölderlin
Aus den Gärten komm‘ ich zu euch, ihr Söhne des Berges! Aus den Gärten, da lebt die Natur geduldig und häuslich, Pflegend und wieder gepflegt mit dem fleißigen Menschen zusammen. Aber ihr, ihr Herrlichen! steht, wie ein Volk von Titanen In der zahmeren Welt und gehört nur euch und dem Himmel, Der euch nährt‘ und erzog und der Erde, die euch geboren. Keiner von euch ist noch in die Schule der Menschen gegangen, Und ihr drängt euch fröhlich und frei, aus der kräftigen Wurzel, Unter einander herauf und ergreift, wie der Adler die Beute, Mit gewaltigem Arme den Raum, und gegen die Wolken Ist euch heiter und groß die sonnige Krone gerichtet.
Eine Welt ist jeder von euch, wie die Sterne des Himmels Lebt ihr, jeder ein Gott, in freiem Bunde zusammen. Könnt‘ ich die Knechtschaft nur erdulden, ich neidete nimmer Diesen Wald und schmiegte mich gern ans gesellige Leben. Fesselte nur nicht mehr ans gesellige Leben das Herz mich, Das von Liebe nicht läßt, wie gern würd‘ ich unter euch wohnen!
Friedrich Hölderlin wurde am 20. März 1770 in Laufen am Neckar geboren. Er ist einer der bedeutenden deutschen Dichter. Sein Werk lässt sich schwer einer bestimmten Richtung zuordnen. Gestorben ist Hölderlin in Tübingen, am 7. Juni 1843.
Stimmungsbild heute Morgen
vom 17. März 2020
Ich wünsche euch allen viel Kraft in den nächsten Tagen und Wochen. Bleibt gesund oder werdet es wieder. Denkt an die Menschen, die eure Hilfe brauchen. Meinen herzlichsten Gruß.
Michael Helm
Rechtschaffene Leser
vom 13. März 2020
Buchbesprechung von Michael Helm
Norbert Paulini ist ein hochangesehener Dresdner Antiquar. „Der Leser“ sei er: ein Buchliebhaber, der Literaturschätze hebt und bewahrt, der Menschen über Bücher ins Gespräch bringt. Er ist ein Mensch, wie sich jeder Bibliophile ihn wünschen mag. Der Buchhändler unseres Vertrauens.
Ingo Schulze Die rechtschaffenen Mörder S. Fischer-Verlag, Leinen, 320 S., 21,- € erschienen am 04.03.2020 ISBN 978-3-10-390001-9
So taucht die Leseratte ein, in das Buch von Ingo Schulze „Die rechtschaffenen Mörder“, wie in eine Legende antiquarischer Welten, wie sie in unseren Tagen zwar nicht verschwinden, aber doch seltener werden. Da stapeln sich Bücher aus Leder, Leinen und Papier bis an die Decke, klingeln muss, wer Einlass begehrt und das Wort über Literatur findet hier immer einen Anklang. Ein Traum vom Bücherparadies, den Ingo Schulze platzen lässt.
Zum einen erzählt die Geschichte, wie sich der Dresdner Antiquar durch die Wendezeiten behaupten muss und wie sich nicht allein die Welt um ihn herum verändert. Wie wandelt sich Norbert Paulini in ihr? Wird der passionierte Leser und Bücherliebhaber gar zu einem fremdenfeindlichen „Unmenschen“?
Es ist schwierig, über diesen aktuellen Roman von Ingo Schulze zu reden, ohne über das Ende zu viel zu verraten. Ich schätze die Bücher des in Dresden geborenen Autors seit Jahren. „Die rechtschaffenen Mörder“ hinterlässt mich skeptisch und ratlos.
Der Roman besteht aus drei Teilen. Der Erzähler berichtet im ersten Teil die Geschichte des Norbert Paulini, wie sie im Klappentext skizziert wird. Im zweiten Teil des Buchs berichtet dieser Erzähler selbst, wie er in die Lebensgeschichte Paulinis involviert war und ist. Vom Beobachter wird er selber zur Figur. Ein dritter Teil lässt dann seine Lektorin zu Wort kommen, die diesen Erzähler und Autoren dazu anhält ein Buch über Norbert Paulini zu veröffentlichen. Eine geschickte Einschachtelung, die eine tiefergehende Bedeutung hat. Die beiden letzten Teile wenden den Roman in eine unerwartete Richtung. Nicht zu viel ist verraten, wenn man beim Lesen immer skeptischer wird und das Vertrauen verliert.
Ist man zu Beginn ganz umfangen von der heimeligen Welt der alten Bücher, die Sinn stiften, Halt geben, so zweifelt man plötzlich an Paulinis Haltung. Bei diesem Zweifel wird es nicht bleiben. Und es stellt sich die Frage, auf was wir uns beim Lesen verlassen? Auf was wir uns verlassen können? Auf die Redlichkeit der Hauptfigur Paulini? Auf den Erzähler, der sie uns nahebringt? (Übrigens ein Herr Schultze, mit tz geschrieben!) Auf den Literaturbetrieb, der uns das alles literarisch vermitteln will? Gar auf Ingo Schulze, der diesen Roman letztlich geschrieben hat?
Literatur soll Fragen aufwerfen. Ingo Schulze tut das. Dass ein Bücherliebhaber nicht zwangsläufig ein rechtschaffener Mensch sein muss, weil er Bücher liebt? Geschenkt, wenn auch erschreckend, oder nicht? Aber wie sieht es mit den Autoren aus? Wie sehr hinterfragen wir eigentlich das, was wir da lesen? Vielleicht gar nicht schlecht, hier bei der Lektüre in Zukunft öfter einmal aufzuschrecken. Ich dachte jedoch auch an die Frage: Wie sehr reflektieren wir uns selbst, als rechtschaffene Leser? Unsere Haltung, unsere Urteile und Vorurteile?
Das Buch lässt vieles offen. Vermutlich wird es von den Bücherliebenden sehr unterschiedlich gelesen und verstanden werden. Ich habe mich gefragt, ob die Haltung, die dahinter steht, zu vage bleibt. Oder wird uns gerade auf diese Art eine explizite Haltung zum Buch und seiner Thematik abverlangt? Darüber denke ich noch immer nach, als rechtschaffener Leser. Ergebnis offen.
Guten Morgen
vom 06. März 2020
Eine fotografische Biografie
Ich mag Züge. Und irgendwie auch Bahnhöfe. Du schaust auf, aus deinem Buch, während du auf den Zug wartest und siehst das …!
Du bist mit Menschen unterwegs, kannst in aller Geduld hier und da deinen Espresso trinken … ich weiß, jetzt kommt das übliche Bahn-Bashing! Aber mal ehrlich, an diesem Morgen wurde ich nicht von einem genervten Elli durch eine Baustelle geschoben, später von einer Lichthupe angemacht, der meine Hundertzwanzig eine persönliche Beleidigung waren und auch nicht von einer hochroten Tomate angepflaumt, ob ich Penner wohl ärztliche Hilfe bräuchte — ich hatte mich erdreistet, mich innerorts an die Geschwindigkeitsbegrenzung zu halten.
Nein, nein, mein Buch war fantastisch. Und mein Tag wurde es dann übrigens auch.
Michael Helm
Das maßlose Schweigen der Lebenden …
vom 28. Februar 2020
Das Feuerzeug – Eine Erzählung zum Anhören
(…) Das Rauschen des vorbeiströmenden Verkehrs. Ein Atmen. Geräusche… Geräusche… Geräusche…
Darunter eines, das kaum aufgefallen wäre, wenn es nicht irgendwie anders gewesen, aus dem Rahmen gefallen, wäre. Wenn dabei nicht ein Stuhl hingefallen wäre. Wären da nicht die Köpfe am Tresen gewesen, die plötzlich in eine Richtung starrten – Verwirrung, Ärger, Verachtung, auch Mitleid – während der Barmann seine Gläser spülte. Wenn da nicht eine Unregelmäßigkeit gewesen wäre, die ich sofort spürte, die alle spürten, auch wenn immer noch die Rufe aus der Küche, die Automaten, die Schritte im Flur, das Licht an der Decke… …wurde es ruhiger. Ein wenig, dann mehr.
Stille.
Das maßlose Schweigen der Lebenden. (…)
Das Feuerzeug | Erzählung von Michael Helm | gelesen vom Autor
Mittendrin
vom 21. Februar 2020
Gedanken zum Stück „Asche zu Asche“ von Harold Pinter am Bochumer Schauspielhaus
Mittendrin. Im Wohnzimmer zweier Menschen, Devlin und Rebecca. Das Gespräch der beiden erscheint mir wie eine Odyssee, eine Verirrung und der Versuch einer Heimkehr. Die Theaterbesucher mittendrin. Auf der Bühne der Kammerspiele des Bochumer Schauspielhauses. Mittendrin bedeutet: Weiter hinein ins Theater geht es nicht.
Harold Pinter – Asche zu Asche | Schauspielhaus Bochum Regie: Koen Tachelet | Mit: Guy Clemens, Elsie de Brauw Weitere Infos, Fotos und kommende Termine: Link
Die Gedanken, die mich nach dem Stück von Harold Pinters „Asche zu Asche“ bewegen, sind keine, die mich zu einer klugen Besprechung inspirieren. Die ließe sich an anderer Stelle nachlesen. Was mich nicht loslässt, ist die Nähe im Theater. Möglichkeit oder Bedrohlichkeit?
Immer wieder sitze ich staunend auf der Bühne von Theatern. Das ist eine seltene, aber keine neue Erfahrung. Die Perspektive wird verschoben, wenn du als Teil eines griechischen Chores — jenseits des Vorhangs — plötzlich in den leeren Zuschauerraum blickst; dorthin, wo du dich eigentlich erwarten würdest. Ein Regisseur ließ mich mit den anderen Zuschauern auf beweglichen Tribünenelementen solange über die Bühne schieben, bis niemand von uns mehr wusste, wo er sich in seiner Inszenierung der Odyssee noch befand. Das ist Theater direkt vor den Augen des Betrachters. Man kommt dem Geschehen so nahe, dass die Nähe Teilnahme suggeriert. Das ist faszinierend, kann aber auch bedrohlich nah wirken. Soll es ja auch.
In der Inszenierung von Koen Tachelet in Bochum ist es nicht allein die räumliche Nähe zum Geschehen auf der Bühne. Kann man denn noch näher sein, als direkt am Geschehen?
Tachelet holt uns ins Wohnzimmer — die Zuschauer werden durch die Kammerspiele und auf die Bühne geleitet — um auf Stühlen, Schaukelstühlen, Sitzgelegenheiten, frei im Raum verteilt, Platz zu nehmen. Wo wird gespielt? Wo verläuft die Grenze zwischen Beobachter und Geschehen? Wo findet es statt, das Spiel vor unseren Augen?
Der Blick in den Zuschauerraum ist ungehindert, um uns herum Menschen, die sehen wollen — das Stück sehen wollen. Dann erheben sich hinter mir Stimmen. Guy Clemens und Elsie de Brauw erheben sich und bewegen sich zwischen uns. Mittendrin. Sie. Wir. Nehmen neben uns Platz, sprechen uns an. Mittendrin. Im Raum des Theaters. Im Raum der Schauspieler. Im Raum der Figuren. Im Wohnzimmer von Devlin und Rebecca. Devlin steht einmal dicht hinter mir — soll ich mich umdrehen, hinschauen? nein — erzählt vom Friseur … ich kann mich kaum noch darauf konzentrieren, was er sagt, … ich denke, gleich legt er mir den Kopf zurück, um mir die Haare zu kämmen … Mittendrin. Gedanken, ganz andere als sonst … Nein, näher geht es nicht. Teil des Stücks, Teil der Szene, des Gesprächs der beiden. Mittendrin.