Michael Helm

Aus dem Leben eines Taugenichts

vom 24. August 2016

Sieben Uhr Abfahrt in Hannover. Nach dem Wochenende in Hamburg und mitteldeutschem Zwischenstopp geht es weiter nach OWL. Ein paar Terminchen. Da ich pünktlich sein will und der A2 bei Bad Nenndorf und Bad Eilsen nie über den Fahrweg traue, fahre ich lieber mit einer Ersatzstunde im Gepäck. Ich kenne Elfriede: Elfriede berichtete ja schon bei Hamburg von Unfall auf der A7 gemeldet oder Baustelle auf der A1 gemeldet im Minutentakt. Ihr Lieblingsspruch war: Sie fahren auf der schnellsten Route. Elfriede lügt! Kann eine Maschine lügen? Genug Zeit, im Stau darüber zu philosophieren.

Heute also Konferenz an der Gesamtschule in Bünde zwecks Rekrutierung neuer Lesescouts für das neue Schuljahr. Alle drei Kultur-und-Schule-Projekte sind genehmigt. Jetzt geht´s los: das gekonnte Spiel auf der Klaviatur der Organisation, angepasst an die Bedingungen der jeweiligen Schule. Eine Konferenz in Bünde, flitze weiter nach Hiddenhausen, eine Konferenz an der dortigen Gesamtschule, flitze über die Straße zum kurzen Gespräch in die Gemeindebücherei – Christine, die Leiterin, und ich, sind uns einig – wir haben uns nach den Urlaubstagen die schwarzen Ringe unter unseren Augen schon wieder redlich verdient – und weiter nach Herford, Stadtbibliothek. Flitze zwischen Vorgesprächen zur Lesung, Besprechung von Texten und Pressegespräch hin und her. Vorfreude: Die Matineen beginnen wieder im September. Besprechung der Räumlichkeiten mit dem neuen Team der Bibliothek vor Ort. Die Technik ruft aus Dortmund an und gibt grünes Licht. Ich grüße zahlreiche Menschen, die mich anlächeln. „Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick, die Braue, Pupillen, die Lider – Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück … Vorbei, verweht, nie wieder.“ Mir fallen die Zeilen aus dem Tucholsky-Gedicht ein. Wie vielen Menschen habe ich heute schon in die Augen geschaut? Gesprochen, besprochen, vereinbart, geplant, entwickelt, verwickelt, verworfen. Ergebnis: „Vorbei, verweht, nie wieder.“

Dann stehe ich plötzlich auf dem Linnenbauerplatz in Herford und weiß nicht, was ich machen soll. Kinder spielen im Wasser, klettern fröhlich schreiend über ein Piratenschiff, Eltern plaudern, junge Menschen reden mit Smartphone. Ich stehe und weiß nicht wohin. Mein nächster Termin ist erst in zwei Stunden. Wie ich so über den Platz schaue, spricht eine langjährig treue Zuhörerin zu mir: „Sinnieren Sie über das Wesen der Herforder?“ Ich bin ganz verdattert. Und dann verschlingt mich Herford für zwei seltene Stunden meines Lebens. Ich werde nicht sagen, was ich getan habe und woran ich gedacht habe. Nur, dass mir das Wesen der Herforder ein wenig deutlicher vor Augen war, als ich zu meinem nächsten Probetermin eilte.

Abends auf der A2 in Richtung Heimat ist es dunkel. Ich schaffe es auch nicht ganz. Muss eine längere Pause auf einer Raststätte machen. Spreche mit einem LKW-Fahrer über sein tägliches Brot auf den Rastplätzen entlang der Warschauer Allee, über die tristen dunklen Nächte, eingereiht zwischen LKW, LKW, LKW. Ich schlafe ein wenig im Auto. Als ich erwache, lausche ich dem Rauschen der Fahrzeuge auf der Bahn hinter mir und stiere abwesend in die Dunkelheit. Hier ganze Nächte verbringen? Ich lasse den Motor an. Es geht weiter. Gedanklich bin ich noch lange nicht zu Hause angekommen, als die Haustür hinter mir ins Schloss fällt. Alles ist so ruhig hier und dunkel. Mitten in der Nacht. Vor der nächsten Abreise.

mh

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