Gespräch mit einer Gans
Aufgelesenes III
Ich machte heute Morgen meine kleine Runde am See. Außer mir war niemand unterwegs. Selbst in Corona-Zeiten und in der frühen Morgenstunde eine ungewöhnliche Stille. Es ist eine kleine Ewigkeit her, dass ich gelernt hatte, Vogelstimmen zu erkennen, doch plötzlich — hier in der Ruhe — hörte ich sie wieder und kramte in meinen verklungen geglaubten Hör-Erinnerungen.
Da kam ich an einigen Gänsen vorbei und sprach anstatt eines fröhlichen Guten Morgens: „Na, ihr Lieben, habt ihr die Welt einmal nur für euch allein?“
Eine Gänsedame drehte den Kopf und erwiderte: „Hältst du das hier für eine Welt?“
Ich hatte nicht geahnt, dass meine Kenntnisse der Vogelstimmen so weit reichten und blieb stumm.
„Wir sind erst kürzlich aus Afrika zurückgekehrt. — Es ist hier bei euch ein schönes, aber doch bescheidenes Fleckchen Erde,“ sagte sie und ich ahnte bereits, worum es ihr ging. „Doch gemessen an der Welt, die wir auf unserer Reise hierher überflogen haben?“
Ich konnte diesem philosophischen Gedanken nur beipflichten. Doch da mischte sich ein Erpel in unser Gespräch und rief etwas beleidigt: „Und wer gibt uns nun unser tägliches Brot?“
Die Gans hob nur ihren langen Hals und sagte: „Darum müsst ihr euch jetzt wohl selbst wieder kümmern.“ Sie wandte sich ab und ließ uns stehen.
Mit dem aufdringlichen Erpel wollte ich nicht länger reden und setzte meinen Spaziergang fort. Ob es nicht von Vorteil wäre, dachte ich, solch philosophischen Disput des Öfteren zu führen?
mh