Michael Helm

Kaspars Gedankengang VI

vom 22. Oktober 2021

… Bücher, die ich schon einmal gelesen habe, … warum lese ich die eigentlich ein weiteres Mal? … Bei 1984 ist die Antwort auf den ersten Blick banal. Es gibt 2021 acht Neuübersetzungen ins Deutsche … ob die Verlage glauben, dass ich diese nun alle lesen muss, konnte mir mein Buchhändler nur schmunzelnd beantworten …

… zwei Übersetzungen scheinen mir interessant zu sein:

George Orwell – 1984
Übersetzt von Frank Heibert
S. Fischer, 2021, 432 S.
ISBN 9783103900095

George Orwell – 1984
Übersetzt von Eike Schönfeld
Insel Verlag, 2021, 382 S.
ISBN 9783458178767

Erstere ist im Präsens übersetzt und weicht damit stilistisch erheblich vom Original ab. Ich hätte das ehrlicherweise eine Übertragung genannt … ob die Begriffe Übersetzung / Übertragung in getrennter Bedeutung so üblich sind, wie ich es empfinde, weiß ich allerdings nicht …

… Es stört mich etwas, mich an das Präsens zu gewöhnen … ich habe das Übersetzer-Nachwort bewusst noch nicht gelesen, weil ich mir erst einen eigenen Eindruck von der Idee machen möchte, die für mich auf der Hand liegt. Diese Form rückt den Stoff näher an die heutigen Leser*innen heran, in ihrer aktuellen Problematik … 

… Es ist kein Geheimnis, dass viele 1984 als ein Buch betrachten, das auch heute noch nicht an Aktualität verloren habe. Dass Orwell 1984 als Kommunismuskritik geschrieben hat, geht da etwas verloren. Für heutige Leser*innen stehen vielleicht die totalitären Mechanismen im Vordergrund, wie sie sicherlich in allen autoritären Regimen vorkommen können … welcher Ideologie auch immer. Da merkt man dem Buch – aus heutiger Sicht gelesen – auch gleich die „Schwächen“ an. Visionär beschreibt Orwell das Prinzip: Überwachbarkeit des Einzelnen bis ins Alltägliche, Kontrolle von Meinungs- und Gedankenfreiheit, Kontrolle durch das soziale Umfeld, Fälschung von Fakten, bis hinein in die Geschichte, etc. … Das alles wirkt heute, mit unseren technischen Möglichkeiten der Mediengesellschaften, die Orwell noch nicht kannte, viel bedrohlicher. 

… Fast altbacken wirkt es, wenn sich Winston Smith von den Augen des Großen Bruders überall verfolgt fühlt. Da hängen nahezu überall die Plakat mit der legendären Aufschrift Big Brother is watching you. Fast überall Mikrofone, Kameras, Telemonitore (ein Wort, das wie eine Antiquität klingt) … letztere senden nicht nur, sondern sie empfangen auch, was Winston in seiner Wohnung tut und sagt. Das geht so weit, dass Winston bemüht ist, stets seine Mimik zu kontrollieren, nicht nur, weil ihn die Technik sieht und hört, sondern auch jeder Kollege ein Spitzel des Großen Bruders sein könnte … die Welt ist voller Misstrauen … 

… das ist gleichfalls die Stärke des Buches, noch heute … es offenbart die Prinzipien des Totalitären, egal wie wir sie technisch umgesetzt sehen … heute nennen wir das Sprachassistenten, Smartphone-Technik, Social Media, Datenkrake, usw. … neutrale technische Möglichkeiten … aber wer sie missbrauchen will, kann es tun … die Prinzipien der Kontrolle sind dieselben … das totalitäre Prinzip erkennbar … offengelegt …

… ich habe 1984 als Schüler zum ersten Mal gelesen und war begeistert. Ich bin es heute auf ernüchterte Weise erneut. Wie das in den beiden Übersetzungen zum Tragen kommt – ich habe mir auch noch eine englische Fassung besorgt – wird sich zeigen … 

… Ich bin gespannt …

Kaspar Hauser

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